08/03/2025
Das Rechnen ist für viele eine Selbstverständlichkeit, doch für Kinder, Jugendliche und sogar Erwachsene mit Dyskalkulie kann es eine große Hürde im Alltag darstellen. Eine Rechenschwäche ist mehr als nur eine vorübergehende Schwierigkeit mit Mathematik; sie ist eine spezifische Lernstörung, die das Leben erheblich beeinträchtigen kann. Die gute Nachricht ist: Eine gezielte und frühzeitige Intervention kann den Verlauf einer Dyskalkulie positiv beeinflussen und die Betroffenen dabei unterstützen, grundlegende mathematische Fähigkeiten und Strategien zu entwickeln. Selbst im Erwachsenenalter kann eine Therapie noch sinnvoll sein, um neue Wege im Umgang mit Zahlen zu finden und das Selbstvertrauen zu stärken.

Was ist Dyskalkulie und warum ist eine Therapie so wichtig?
Dyskalkulie, oft auch als Rechenschwäche bezeichnet, ist eine neurologisch bedingte Teilleistungsstörung, die sich durch erhebliche Schwierigkeiten beim Erwerb mathematischer Fertigkeiten auszeichnet. Diese Schwierigkeiten sind nicht auf mangelnde Intelligenz oder unzureichenden Unterricht zurückzuführen, sondern auf eine spezifische Verarbeitung von Zahlen und Mengen im Gehirn. Die Auswirkungen können weitreichend sein, von schulischen Problemen über Schwierigkeiten im Alltag (z.B. beim Umgang mit Geld oder Zeit) bis hin zu psychischen Belastungen wie Frustration, Angst und einem geringen Selbstwertgefühl. Eine Therapie ist daher nicht nur eine Unterstützung beim Rechnen, sondern auch eine wichtige Maßnahme zur Förderung der seelischen Stabilität und des allgemeinen Wohlbefindens.
Die S3-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Rechenstörungen gibt klare Richtlinien vor, wie eine effektive Förderung aussehen sollte. Sie betont die Notwendigkeit einer symptomspezifischen Förderung, die direkt an den individuellen Rechenschwierigkeiten ansetzt. Zudem sollten bevorzugt Förderprogramme eingesetzt werden, deren Wirksamkeit wissenschaftlich fundiert und belegt ist.
Ergotherapie vs. Lerntherapie: Eine entscheidende Unterscheidung
Eltern stehen oft vor der Frage, welche Therapieform die richtige für ihr Kind mit Rechenschwäche ist: Ergotherapie oder Lerntherapie? Beide Ansätze können hilfreich sein, verfolgen jedoch unterschiedliche Schwerpunkte und haben unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen.
Was kann Ergotherapie leisten?
Ergotherapeut:innen behandeln keine Dyskalkulie im Sinne einer isolierten Rechenstörung auf Rezept. Ihr Fokus liegt auf der Förderung von Kindern mit Wahrnehmungsstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, motorischen Entwicklungsstörungen oder kognitiven Störungen (z.B. Exekutivfunktionen). Das Ziel ist es, Kindern die Teilnahme an bedeutungsvollen Betätigungen im Alltag zu ermöglichen. Dazu können auch der Umgang mit Geld und Zeit sowie das Erfassen von Mengen und Zahlen gehören. Ergotherapie arbeitet an den sogenannten sensomotorischen Basisfähigkeiten, die den höheren kognitiven Fähigkeiten zugrunde liegen.
Häufig finden sich bei Kindern mit Dyskalkulie begleitende Wahrnehmungsstörungen, die durch Ergotherapie angegangen werden können:
- Taktil-kinästhetische Wahrnehmung: Schwierigkeiten bei der Entwicklung des Körperschemas, der Unterscheidung von Raumrichtungen (oben/unten, rechts/links) oder dem Erlernen des Zahlenschreibens.
- Visuelle Wahrnehmung und visuell-räumliche Verarbeitung: Beeinträchtigungen beim visuellen Erfassen von Mengen, Längen- und Größenunterschieden, Winkeln oder der Orientierung in Zahlenräumen und Koordinatensystemen.
- Auditive Wahrnehmung: Probleme bei der auditiven Diskriminierung von Zahlwörtern, Merkfähigkeitsprobleme oder Schwierigkeiten bei der Zwischenspeicherung von Ergebnissen.
Eine ergotherapeutische Maßnahme wie die „sensomotorisch-perzeptive Behandlung“ kann hier ansetzen, um diese Grundlagen zu stärken und somit indirekt das Fundament für mathematisches Verständnis zu legen. Dies geschieht oft im Kontext von alltagsrelevanten Zielen, wie dem selbstständigen Umgang mit Taschengeld.
Was leistet integrative Lerntherapie?
Im Gegensatz zur Ergotherapie setzt die integrative Lerntherapie direkt an den Rechenschwierigkeiten an. Sie entwickelt individuell passende Lernstrategien, fördert grundlegende Fertigkeiten und integriert oft auch psychotherapeutische Elemente, um die seelische Stabilität zu stärken. Lerntherapeut:innen arbeiten eng mit den Kindern und Jugendlichen zusammen, um ihnen spezifische Strategien und Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie ihre mathematischen Herausforderungen bewältigen können.
Die Qualifikation der Therapeut:innen ist hierbei von größter Bedeutung. Da die Berufsbezeichnungen „Lerntherapeut“ oder „Dyskalkulietherapeut“ in Deutschland nicht geschützt sind, ist es essenziell, auf anerkannte Ausbildungen zu achten, beispielsweise nach den Standards des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) oder des Fachverbands für integrative Lerntherapie (FiL). Diese Verbände führen auch Listen qualifizierter Therapeut:innen.
Grenzen der Ergotherapie bei Dyskalkulie
Ein wichtiger Punkt ist, dass eine Ergotherapie als Kassenbehandlung eine Dyskalkulietherapie nicht ersetzen kann und darf. Die Heilmittelrichtlinie schließt die Behandlung isolierter Lernstörungen (zu denen auch Rechenstörungen gehören) auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen aus. Das bedeutet, dass eine Ergotherapie zwar begleitende Wahrnehmungs- oder Aufmerksamkeitsstörungen behandeln kann, aber nicht die Rechenstörung selbst als Hauptindikation. Intensive Eltern- und Umfeldarbeit, die für eine erfolgreiche Dyskalkulietherapie unerlässlich ist, ist zudem nicht umfassend durch ein Ergotherapierezept abgedeckt.
Elke Kumar, eine erfahrene Ergotherapeutin und integrative Lerntherapeutin, betont, dass die Inhalte einer umfassenden, ganzheitlichen und systemischen Lerntherapie-Weiterbildung nicht im Rahmen der Ergotherapie-Ausbildung abgedeckt sind. Während eine Ergotherapeutin durchaus sensomotorische Strategien nutzen kann, um die Graphomotorik zu unterstützen, ist dies keine Lerntherapie im eigentlichen Sinne. Und umgekehrt: Eine Lerntherapeutin kann keine Ergotherapie durchführen. Jeder Fachbereich hat seine eigenen Methoden, Materialien und Prozesse.
Es ist jedoch durchaus legal, wenn innerhalb einer Ergotherapiepraxis eine Lerntherapie als sogenannte IGel-Leistung (individuelle Gesundheitsleistung, die selbst bezahlt werden muss) angeboten wird, vorausgesetzt, die durchführende Person verfügt über die entsprechende Qualifikation als Lerntherapeut:in.
Die Bedeutung von Umfeldarbeit und Prävention
Ein ganzheitlicher Ansatz bei Dyskalkulie erfordert die enge Zusammenarbeit mit dem Umfeld des Kindes. Eine integrative Lerntherapeutin leistet intensive Umfeldarbeit mit der Schule, dem Elternhaus und weiteren Beteiligten. Sie kann Tipps zum Nachteilsausgleich geben und den Austausch mit der Schule fördern, um lerntherapeutische Inhalte in den Schulalltag zu transferieren. Ergotherapeut:innen haben hier oft weniger fundierte Kenntnisse, da dies nicht zu ihrem Kerngebiet gehört.

Die frühzeitige Erkennung von Lernschwierigkeiten, Stichwort Prävention, spielt eine entscheidende Rolle. Bereits im Kindergartenalter können Anzeichen für eine spätere Rechenstörung erkennbar sein. Etwa 2-8% aller Kinder entwickeln laut S3-Leitlinie eine Rechenstörung, oft trotz ausreichender Intelligenz. Leider werden diese Schwierigkeiten im Vorschulalter oft verharmlost, mit der Annahme, „das wächst sich schon raus“. Doch das ist nicht immer der Fall. Ergotherapeut:innen, die im Vorschulbereich tätig sind, tragen eine besondere Verantwortung, Risikofaktoren wie Schwierigkeiten im visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnis oder den exekutiven Funktionen zu erkennen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten.
Wann welche Therapieform wählen und wie sie sich ergänzen
Die Entscheidung für die richtige Therapieform hängt von den individuellen Schwierigkeiten des Kindes ab. Im Idealfall ergänzen sich Ergotherapie und Lerntherapie in einer interdisziplinären Zusammenarbeit.
| Aspekt | Ergotherapie | Lerntherapie |
|---|---|---|
| Fokus | Basale sensomotorische Fähigkeiten, Wahrnehmung, Kognition, Alltagsbetätigungen (z.B. Umgang mit Geld) | Direkt an mathematischen Schwierigkeiten, Lernstrategien, psychologische Unterstützung |
| Rezeptfähigkeit (GKV) | Bei Wahrnehmungs-/Aufmerksamkeitsstörungen, nicht bei isolierter Dyskalkulie | Nicht als Kassenleistung für isolierte Lernstörungen |
| Umfeldarbeit | Begrenzte Beratung zur Integration im häuslichen Umfeld | Intensive Zusammenarbeit mit Schule und Eltern, Nachteilsausgleich |
| Qualifikation | Staatlich anerkannte Ergotherapeut:innen | Zusätzliche, umfassende Weiterbildung (z.B. BVL, FiL) erforderlich |
| Idealer Startpunkt | Jüngere Kinder (Vorschulalter) bei Vorläuferfähigkeiten und sensomotorischen Defiziten | Ab Schulalter (Ende 1. Klasse) bei manifesten Rechenschwierigkeiten |
Bei jüngeren Kindern, insbesondere im Kindergartenalter, kann eine ergotherapeutische Diagnostik sinnvoll sein, um abzuklären, ob Einschränkungen in den Vorläuferfähigkeiten fürs Rechnen (Wahrnehmung, Kognition, Aufmerksamkeit, Motorik) vorliegen. Liegen diese Informationen vor, kann besser abgewogen werden, ob eine Ergotherapie oder eher eine Dyskalkulietherapie angebracht wäre – oder ob sich beide Fachbereiche idealerweise ergänzen. Je jünger die Kinder, desto sinnvoller ist oft zunächst eine Ergotherapie. Eine relativ gute Diagnostik einer Rechenstörung kann etwa ab Ende der ersten Klasse erfolgen, weshalb ab Schulalter dann zunehmend Lerntherapeut:innen ins Boot geholt werden sollten.
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit könnte beispielsweise so aussehen: In der Ergotherapie wird schwerpunktmäßig an den sensomotorischen Grundlagen gearbeitet und an einem für das Kind bedeutsamen Alltagsziel wie der Orientierung im Raum. In der Lerntherapie hingegen konzentriert man sich auf konkrete Rechenoperationen und mathematische Strategien. Ein Kind mit Aufmerksamkeitsstörung könnte in der Ergotherapie Strategien zur besseren Selbststrukturierung (z.B. für Hausaufgaben) erarbeiten, während die Lerntherapie sich auf andere Inhalte konzentriert. Die umfassende Umfeldberatung bleibt dabei eine Stärke der Lerntherapie.
Häufig gestellte Fragen zur Dyskalkulietherapie
Ist eine Dyskalkulie heilbar?
Dyskalkulie im Sinne einer spezifischen Lernstörung kann nicht „geheilt“ werden, da sie eine neurologische Ursache hat. Aber mit gezielter Therapie können die Schwierigkeiten im Rechnen deutlich gemindert und effektive Strategien für den Umgang mit Zahlen erlernt werden. Viele Betroffene können so ein selbstständiges und erfolgreiches Leben führen.
Wer darf Dyskalkulie diagnostizieren?
Die Diagnostik einer Dyskalkulie sollte von qualifizierten Fachleuten durchgeführt werden, die psychometrische Testverfahren anwenden können. Dazu gehören in der Regel Kinder- und Jugendpsychiater:innen, Kinderärzt:innen mit entsprechender Zusatzqualifikation oder psychologische Psychotherapeut:innen. Die S3-Leitlinie gibt auch hierzu hilfreiche Empfehlungen. Neben einem IQ-Test wird immer auch ein standardisierter Rechentest durchgeführt.
Übernimmt die Krankenkasse die Kosten für eine Dyskalkulietherapie?
In der Regel übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für eine Dyskalkulietherapie als isolierte Lernstörung nicht. Es handelt sich oft um eine Eigenleistung (IGel). In einigen Fällen kann jedoch eine Kostenübernahme durch das Jugendamt im Rahmen der Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII) geprüft werden, wenn die Rechenstörung eine seelische Behinderung verursacht oder zu verursachen droht.
Ist eine Therapie im Erwachsenenalter noch sinnvoll?
Ja, unbedingt. Auch im Erwachsenenalter kann eine Dyskalkulietherapie noch sehr sinnvoll sein. Sie kann helfen, langjährige Frustrationen abzubauen, neue Strategien für den Umgang mit Zahlen im Berufs- und Privatleben zu erlernen und das Selbstwertgefühl zu stärken. Der therapeutische Ansatz wird dabei individuell an die Bedürfnisse und Lebensumstände des Erwachsenen angepasst.
Wie finde ich einen qualifizierten Dyskalkulietherapeuten?
Da die Berufsbezeichnung nicht geschützt ist, ist es wichtig, gezielt nach Therapeut:innen zu suchen, die eine anerkannte, umfassende Weiterbildung (z.B. nach BVL oder FiL) absolviert haben. Diese Fachverbände führen Adresslisten qualifizierter Therapeut:innen. Scheuen Sie sich nicht, nach Ausbildungszertifikaten und dem Stundenumfang der Weiterbildung zu fragen.
Fazit
Die Unterstützung für Kinder und Erwachsene mit Dyskalkulie ist vielfältig und sollte stets individuell zugeschnitten sein. Es gibt nicht die eine perfekte Lösung, sondern oft ist es eine Kombination aus verschiedenen Ansätzen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ergotherapie und Lerntherapie kann dabei von unschätzbarem Wert sein, um sowohl die basalen sensomotorischen Fähigkeiten zu stärken als auch die spezifischen mathematischen Schwierigkeiten direkt anzugehen. Eine frühe Diagnostik und Intervention sowie eine intensive Umfeldarbeit sind die Schlüssel zu einem erfolgreichen Weg, auf dem Betroffene lernen, ihre Herausforderungen im Umgang mit Zahlen effektiv zu meistern und ihr volles Potenzial zu entfalten.
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